Warum die Vereinten Nationen nicht um eine Reform herumkommen
Vor etwas mehr als einem Monat fanden sich im Hauptquartier der Vereinten Nationen (VN) Vertreter:innen der Mitgliedsstaaten zur jährlichen Vollversammlung zusammen. Die Treffen der Generalversammlung sind ein jährliches diplomatisches Schauspiel , welches auf internationaler Ebene seines gleichen sucht. Nirgendwo sonst kommen alle Länder an einem Ort zusammen, um gemeinsam über Lösungen globaler Probleme und Herausforderungen zu diskutieren.
In diesem Jahr wurde die Debatte der Generalversammlung dominiert von der Auseinandersetzung mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Viele große Reden wurden in der Generalversammlung gehalten, die ein Ende des russischen Angriffskrieges herbeisehnen. Immer mehr Länder bekennen im Rahmen der VN Farbe für den Respekt des Völkerrechts und die Grundprinzipien der VN, der Wahrung territorialer Unversehrtheit . Das ist wünschenswert, dennoch müssen die VN der Realität ins Auge schauen: eine große Rolle spielen sie bei der Beendigung des Krieges nicht. Natürlich kann nur Russland den Krieg beenden und nicht etwa Scheinverhandlungen, die russischen Vorstellungen folgen. Dennoch sollten die VN als globale Friedensorganisation in einer idealen Welt größeren Druck auf Russland ausüben. Dis gelingt jedoch nicht.
Ein wachsender Systemkonflikt und seine Auswirkungen auf den VN-Sicherheitsrat
Ohne Frage setzt die Generalversammlung mit ihrer Resolution ein deutliches Zeichen. Ob solchen Worten auch Taten folgen steht jedoch auf einem anderen Blatt. Der VN-Sicherheitsrat, das in sicherheitspolitischen Fragen wichtigste Organ der VN, kann bislang wenig Druck auf Russland auswirken. Dies liegt an seiner veralteten Struktur und Regeln, die in diesen Zeiten wie festgefahren wirkt. Solang Russland permanentes Mitglied im Sicherheitsrat ist und ein Vetorecht behält, kann Russland alle etwaigen Initiativen des Sicherheitsrates blockieren. Durch den Krieg stehen die westlichen NATO-Staaten so offen wie lange nicht mehr in einem politischen Konflikt mit Russland. Diese Erkenntnis und daraus resultierenden Auswirkungen scheinen sehr offensichtlich. Schaut man nicht nur auf Russland, gibt es noch einen weiteren Aspekt, der die zukünftige Häufung von Blockade-Effekten innerhalb des Sicherheitsrates wahrscheinlich werden lässt.
China steht in einem sich immer intensiver entwickelnden Systemkonflikt vor allem mit den Vereinigten Staaten gegenüber. Gleichzeitig ist in den letzten Jahren eine immer stärker werdende chinesisch-russische Kooperation sichtbar geworden. Die zu beobachtende politische (aber nicht zwangsläufig freundschaftliche) Nähe von China und Russland deutet nicht unbedingt auf eine vollständige Unterstützung Russlands hin. China enthielt sich bspw. bei der Abstimmung der VN-Resolution zur Verurteilung des Krieges vor einigen. Diese Art der Blockbildung ist jedoch ein Symptom eines sich international aufheizenden Systemkonflikts. Im Vergleich zum kalten Krieg handelt es sich dabei nicht um einen Konflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sondern um einen zwischen demokratischen und autoritären Systemen. Auch wenn China bei der Beurteilung des Angriffskrieges nicht offen an Russlands Seite steht, so verurteilt China diesen auch nicht. Mit Blick auf die chinesischen territorialen Gebietsansprüche über Taiwan ist dies auch nicht verwunderlich.
Was bedeuten diese Dynamiken nun für die zukünftige Arbeit der VN? Wie bereits angedeutet kann eine Konsequenz die eingeschränkte Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrates sein. Bereits im Kalten Krieg war die Arbeit des Sicherheitsrates geprägt von gegenseitigen Blockaden der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Das vor allem Russland durch sein imperialistisches Verhalten verstärkt zu diesem Mittel greifen wird ist nicht unwahrscheinlich. Ähnlich könnte es jedoch auch für China vermehrt opportun sein, sich durch die Nutzung des Vetorechts gegen die Positionen westlicher Staaten zu stellen. Dies liegt auf der Hand, berücksichtigt man den Anspruch Chinas dem eigenen wachsenden Vormachtsanspruch auf der internationalen Bühne gerecht zu werden und sich gegen die vermeintlich westlich dominierte Weltordnung zu stellen. Diese Dynamiken und Verhärtung der Fronten zwischen autoritären und demokratischen Staaten könnte somit Auswirkungen auf sicherheitspolitisch relevante Entscheidungen in Krisenregionen haben, sollten die Mitglieder des Sicherheitsrates (und damit sind nicht nur ausschließlich Russland und China gemeint) ihre Veto-Macht in Zukunft häufiger instrumentalisieren.
Umfassende Reformen: so nötig und gleichzeitig unwahrscheinlich wie nie?
Unter anderem vor dem Hintergrund dieser Veto-Problematik fordern bereits seit mehreren Jahren unterschiedliche Koalitionen von VN-Mitgliedsstaaten eine Reformierung der VN und vor allem des Sicherheitsrates. Dennoch richtet sich die Kritik am Sicherheitsrat nicht nur an die Machtstellung der permanenten Mitglieder, sondern auch an die generelle mangelnde Repräsentanz der aktuellen Weltordnung. Schließlich geht die Zusammenstellung und Ordnung des Sicherheitsrates auf die Nachkriegsordnung der 50er Jahre zurück. Viele Länder fühlen sich bereits seit vielen Jahren nicht ausreichend durch den Sicherheitsrat repräsentiert, der als wichtigstes Organ der VN kollektive Sicherheit garantieren sollte.
Die Reformvorschläge sind divers, auf einen gemeinsamen Reformansatz konnte man sich bislang jedoch noch nicht einigen. Auch Olaf Scholz forderte während der diesjährigen Generalversammlung erneut Reformen des Sicherheitsrates und forderte unter anderem einen permanenten Sitz im Rat für die Bundesrepublik Deutschland. Ob dieser Anspruch der Reformdebatte zuträglich ist, darüber lässt sich streiten. Eines ist jedoch klar: alle Ideen der Reformierung scheitern schnell an dem einfachen Problem, dass alle permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates einer Reform zustimmen müssen bzw. nicht von ihrem Vetorecht Gebrauch machen dürfen. Der Fakt, dass Präsident Biden im Rahmen der diesjährigen Generalversammlung sich offen gegenüber einer Reformierung äußerte und auch französische Gesandte sich für eine Reformierung aussprachen, kann neue Hoffnung machen. Dennoch scheint es ein Wunschdenken zu sein, dass Russland oder China aktuell einer umfassenden Reformierung zustimmen werden. Und auch wenn sich die Vereinigten Staaten und Frankreich einer Reformierung öffnen, so ist es doch nicht zu erwarten, dass diese Länder einen echten Macht- und Einflussverlust innerhalb des VN-Systems so einfach hinnehmen werden. Egal wie man es nimmt, die Situation ist festgefahren: Eine Reformierung scheint im Kontext der immer komplexer werdenden globalen Krisen so nötig wie nie, gleichzeitig scheint ihr Erfolg so unwahrscheinlich wie nie.
Nicht nur im Sicherheitsrat haben die geopolitischen Veränderungen Auswirkungen auf die Arbeit des VN-Systems. Chinas stetiger Einflussgewinn auf globaler Ebene spiegelt sich bspw. direkt in der Arbeit des VN-Menschenrechtsrates wider. Im August veröffentlichte der Menschenrechtsrat einen Bericht zu den massiven Menschenrechtsverletzungen in der chinesischen Provinz Xinjiang. Bereits seit mehreren Jahren werden dort die Uiguren, eine muslimische Minderheit, auf extreme Weise unterdrückt. Normalerweise wird ein solcher Bericht im Rahmen des Menschenrechtsrates diskutiert und daraufhin nächste Schritte besprochen, wie bspw. die Einsetzung eine umfassende Untersuchungskommission. Anfang Oktober wurde eine solche Diskussion im Rahmen der nächsten regulären Sitzung im März 2023 per Abstimmung verhindert . Wie konnte das geschehen? Die chinesische Regierung versteht es sehr gut ihren wirtschaftlichen wachsenden Einfluss in verschiedenen Teilen der Welt für nationale politische Interessen zu nutzen. Es gibt Berichte , dass China in solchen Situationen wie Anfang Oktober Druck auf wirtschaftliche Partnerländer ausübt, um ihre politischen Interessen durchzusetzen. Das ist ein Symptom eines wachsenden Einflussgewinnes Chinas im VN-System, um dieses für ihre Interessen zu nutzen. Letztendlich besteht die Gefahr, dass VN-Organisationen wie der Menschenrechtsrat durch solche Beeinflussung ihre Glaubwürdigkeit verlieren und nicht mehr zuverlässig arbeiten können. Umfangreiche Reformen sollten also ihren Fokus nicht nur auf die Arbeit des Sicherheitsrates, sondern auch auf die Umstrukturierung der VN im Allgemeinen, um der Manipulation von VN-Grundsätzen durch einflussreiche Staaten vorbeugen zu können.
In Zeiten von multiplen Krisen braucht es eine wehrhafte VN
Die VN befinden sich in der Phase multipler Krisen und Herausforderungen an einem Scheideweg. Auf der einen Seite kann es Mut machen, dass sich in der diesjährigen Generalversammlung eine sehr große Mehrheit der Nationen für eine Verteidigung des Völkerrechtes, für die Grundprinzipien der VN und für eine Verurteilung der russischen Annexionen ausgesprochen haben. Gleichzeitig müssen die VN-Mitglieder den großen Worten auch Taten folgen lassen. Vor allem als sicherheitspolitischer Akteur müssen sich die VN umstrukturieren, um in Zukunft eine einflussreichere Rolle bei der Bewältigung sicherheitspolitischer Herausforderungen spielen zu können. Im Rahmen des Sicherheitsrats steht sich das VN-System durch ihre eigenen Regeln selbst im Weg. Es benötigt einen umfangreichen institutionellen Umbau der Vereinten Nationen, um den zukünftigen Herausforderungen gerecht zu werden. Viele Länder haben das bereits erkannt; andere wollen es aufgrund nationaler Interessen noch nicht verstehen.
Es ist eine Chance, das Momentum einer so geeinten Generalversammlung in Bezug auf den russischen Angriffskrieg zu nutzen, um alte Grundsätze zu stärken und neue Regeln zu formen, unter denen alle Staaten leben wollen. Dabei geht es nicht um die Aufrechterhaltung der oft zitierten aber auch viel kritisierten alten „rules-based“ Ordnung, sondern um die Schaffung einer neuen Ordnung. Diese muss auf den Grundsätzen der VN basieren und von allen akzeptiert werden können. Dies heißt jedoch auch, dass sich diese Ordnung gegen die imperialistischen Ansprüche autoritärere Staaten zu wehren vermag. Dies ist kein einfaches Unterfangen, aber trotz der großen Probleme vor denen die VN stehen, ist sie immer noch die beste Organisation des globalen Austausches und kann Hoffnung für eine bessere globale Zusammenarbeit schaffen. Im Jahr 2015 hat dies durch die Schaffung der Sustainable Development Goals und die Verabschiedung des Paris Abkommens beeindruckend funktioniert. So schwierig es sein mag, ein solcher Zusammenhalt und Fortschrittsgedanke ist nun erneut von den VN gefordert.
von Constantin Treisch