Eine Medaille mit zwei Seiten – Eine kritische Betrachtung des Kosovo-Konfliktes

Souveränität und die Wahrung territorialer Unversehrtheit sind Begriffe, die in diesem Jahr oft verwendet worden sind. Artikel 2 der UN-Charta verlangt von den Mitgliedstaaten, die Souveränität anderer Mitglieder zu respektieren und Streitigkeiten friedlich unter Anwendung der in der Charta vorgesehenen Mechanismen beizulegen. Dementsprechend dürfen “große” Länder nicht entscheiden, welche Minderheit eines Landes unabhängig werden sollte oder nicht. Nachbarstaaten haben nicht das Recht, die Grenze ihrer Nachbarn zu ändern, nur weil sie der Meinung sind, dass die Grenzen vor 100 Jahren falsch gezogen worden sind. Das aktuell berühmteste Beispiel ist die Ukraine. Ein Konflikt, der für die westliche Welt an der Tür Europas stattfindet. Viele vergessen aber einen Konflikt, der an einer anderen Tür Europas, auf dem Balkan, stattfindet: den Kosovo-Konflikt.  

Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die UN gegründet, mit der Hoffnung, dass, wenn alle Länder sich an die eigenen Regeln halten würden, wir keine Kriege mehr führen müssten. Obwohl alle Mitgliedstaaten sich einig sind, welche “Spielregeln” gelten, wollen nicht alle diese gleich interpretieren. Stattdessen interpretieren sie die Regeln je nach politischem Interesse. Letztlich muss jeder Konflikt aber irgendwann enden. Entweder durch die Kapitulation einer der im Krieg beteiligten Seiten oder mit Hilfe eines Friedensabkommens. Solche Abkommen werden in der Regel unter der UN-Schirmherrschaft verhandelt und sind damit für die internationale Gemeinschaft rechtsgültig. Die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates, als Folge des Kumanovo-Friedensabkommens, hat den Konflikt in Kosovo beendet und Frieden auf den Balkan gebracht. Eine glänzende Medaille, die die Interessen aller Parteien betrachtet hat und einen langfristigen Kompromiss zwischen den Serben und Kosovo-Albaner darstellen sollte. 

Kosovo in Jugoslawien

Im Jahr 1974 hat Kosovo den Status eines autonomen Gebietes innerhalb Serbiens bekommen. Das bedeutete ein eigenes Parlament, Albanisch als Amtssprache, und vor allem die Möglichkeit für die Kosovo-Albaner, die in den 70ern fast 75% der gesamten Bevölkerung in Kosovo (20% Serben, 5% andere) ausmachten, für sich selbst zu entscheiden. Rechte, die die anderen sechs Republiken schon innehatten. Im Endeffekt hieß dies, dass die Albaner als ethnische Gruppe alle Rechte bekamen,  aber Kosovo als Gebiet ein Teil Serbiens blieb. 15 Jahre später, 1989, hat der damalige serbische Präsident Milosevic entschieden, diesen Status wieder rückgängig zu machen. Kosovo sollte seinen besonderen Status verlieren und wieder nur ein Teil serbischen Territoriums werden. Selbstverständlich hat diese Entscheidung zur Unruhe bei den Kosovo-Albaner geführt.

Die 90er Jahren auf dem Balkan

Das Kapitel der 90er Jahre in der Balkangeschichte ist von Kriegen geprägt. Der Zerfall Jugoslawiens war gleichzeitig die blutige Geburt von 5 Ländern (Slowenien, Kroatien, Bosnien, Serbien und Montenegro sowie Mazedonien). Der Bosnienkrieg hat 200.000 Menschen das Leben gekostet und zur Vertreibung von 2.2 Millionen Menschen geführt – Dimensionen, die Europa auf eigenem Territorium zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte. Das Momentum, ein eigenes Land zu gründen, haben auch die Kosovo-Albaner gesehen und den Wunsch, sich von Serbien zu trennen, laut geäußert. Die zuvor erwähnte Entscheidung von 1989 war jedoch ein gutes Argument Serbiens für die Unterdrückung der Kosovo-Albaner. Diese Unterdrückung hat mit dem Boykott der staatlichen Institutionen angefangen, was zu steigenden Polizei-Interventionen geführt hat. Angriffe auf die Polizei und Polizeibrutalität haben sich als “Normalität” des Lebens im Kosovo etabliert. 

Die Rolle der UN in der Kosovo-Frage

Die erste Resolution des UN-Sicherheitsrates zur Kosovo-Frage wurde am 31. März 1998 verabschiedet. Die internationale Gemeinschaft war deutlich: beide Seiten müssen mit den Aggressionen aufhören. Einerseits wurde die Brutalität der serbischen Polizei verurteilt, andererseits wurden terroristische Gruppen im Kosovo kritisiert. 

Auszug aus der Sicherheitsratsresolution 1160 vom 31. März 1998

In der Folge wurden drei weitere Resolutionen verabschiedet, die unterschiedliche Sanktionen auf Jugoslawien angeordnet haben, alle mit demselben Ziel: das Ende der gewalttätigen Auseinandersetzung. Die Rolle der Konfliktmediatoren haben Frankreich, Deutschland, Italien, Großbritannien, USA (s.g. Quinta oder “the Contact Group”) und Russland übernommen. Am Ende haben beide Parteien 1999 ein Friedensabkommen in Kumanovo, Mazedonien, unterschrieben. 

Die letzte und aktuelle Resolution zur Kosovo-Frage ist die vom 10. Juni 1999 Resolution 1244. Die wichtigsten Punkten dieser Resolution sind:

  • Souveränität und territoriale Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien: In der Präambel verpflichtet die Resolution alle UN-Mitgliedstaaten zur Wahrung der „Souveränität und Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien“ und der anderen Staaten der Region
  • Rechtsstatus des Kosovo: Der Rechtsstatus ist nicht definiert, denn darüber wird bis heute verhandelt. Nichtsdestotrotz, wird ganz klar, eine Bekräftigung der Forderung in früheren Resolutionen nach substanzieller Autonomie und sinnvoller Selbstverwaltung für Kosovo hervorgehoben
  • Geltungsdauer: unbefristet

Zusammengefasst zog Serbien sämtliche staatlichen Strukturen einschließlich der Streitkräfte aus dem Kosovo ab und hat dafür die territoriale Integrität bestätigt bekommen.

Weg zur Unabhängigkeit und Ahtisaari-Plan

Die Resolution 1244 hat Frieden gebracht, aber die Kosovo-Frage war noch nicht vollständig gelöst. Das Endziel der Kosovo-Albaner war die Unabhängigkeit und nicht temporäre Institutionen. Die Verhandlungen für den finalen Status finden immer noch statt, leider ohne Erfolg. Der finnische Politiker Ahtisaari hat 2007 Vorschläge gemacht, die einen möglichen Weg zur Unabhängigkeit aufgezeichnet haben. Nach dem sogenannten Ahtisaari-Plan sollte Kosovo das Recht bekommen, eigene nationale Symbole zu führen und Mitglied in internationalen Organisationen werden. Das Problem bei dem Wunsch, Mitglied der UN zu werden, ist, dass Kosovo keine Zustimmung von Serbien bekommen hat. Direkt hat Serbiens Zustimmung wenig damit zu tun, indirekt kann die Resolution 1244, die die serbische territoriale Integrität hervorhebt, nicht geändert werden, weil Russland und China diese kontinuierlich per Vetorecht verteidigen. 

Das war (und ist) auch für die amerikanischen und europäischen Politiker klar. Der US-Außenstaatssekretär Nicholas Burns hat im April 2007 während einer Debatte im amerikanischen Kongress gesagt, dass die USA die Unabhängigkeit des Kosovo anerkennen wird, selbst wenn keine neue Resolution bei der UN verabschiedet werden sollte.

Am 17. Februar 2008 rief das kosovarische Parlament Kosovo als unabhängigen Staat auf.

Brüsseler Abkommen und Kosovo Heute

Unter der Vermittlung der Europäischen Union haben sich Serbien und Kosovo auf das “Brüsseler Abkommen” von 2013 geeinigt. Das oberste Ziel dieses Abkommens war es, einen ersten großen Schritt Richtung einer Normalisierung der Beziehungen zu machen. Die Serben mussten die Polizei- und Justizstrukturen auflösen und im Gegenzug sollte eine Gemeinde der serbischen Kommune gegründet werden, die für Gesundheit, Bildung und Wirtschaft verantwortlich ist. Diese sollte die Interessen der Kosovo-Serben in Kosovo vertreten. Dieser zweite Punkt wurde leider bis heute nicht erfüllt.

Kosovo funktioniert heutzutage de facto als ein unabhängiges Land. Sie haben nationale  Symbole, ein Parlament und einen Präsident. Auch eine Mehrheit der UN Mitgliedsstaaten haben Kosovo als unabhängiges Land anerkannt, aber trotzdem sind sie kein UN-Mitglied. Grund dafür ist, dass ihnen weitere Anerkennungen fehlen, um sich die nötige ⅔ Mehrheit in der Generalversammlung zu sichern. Und auch wenn sie das schaffen würden, würden China und Russland den Beitritt blockieren. 

Die Argumente Serbiens sind, dass die Resolution 1244 noch in Kraft ist und Kosovo über seinen Status wieder verhandeln sollte. Andererseits ist für die Kosovo-Albaner die Frage der Unabhängigkeit abgeschlossen. Aber was sagen die westlichen Länder? 

Für die meisten westlichen Ländern ist Kosovo de facto ein unabhängiges Land und Serbien sollte trotz Resolution 1244 die Realität akzeptieren. Egal auf welcher Seite man steht, allen ist klar, dass am Ende beide Seiten einen Kompromiss finden müssen. Aber die Realitätsfrage ist eine Frage der Ausgansposition in den Verhandlungen. Für die Serben ist das die größte Verhandlungsmasse, um mehr Rechte für die Kosovo-Serben zu verhandeln.

Kosovo als Argument für Russland

Die Komplexität der Kosovo-Frage wird anhand der russischen Invasion deutlich: Die einseitige Unabhängigkeit Kosovos wird immer wieder als Argument von Russland verwendet, um die Annexion der Krim zu rechtfertigen. Für den russischen Präsidenten gibt es klare Parallelen: In beiden Fällen geht es um eine Minderheit, die sich als erpresst in dem jeweiligen Land fühlt. In beiden Fällen machen die Friedensverhandlungen kaum Fortschritte. In beiden Fällen gibt es keine Entscheidung des Sicherheitsrates, dass militärisch eingegriffen werden sollte. Der NATO Angriff/Intervention in Serbien (eine weitere Medaille mit zwei Seiten)  ist für die einen eine Notwendigkeit und für die anderen ein völkerrechtswidriger Angriff.

Aus der Sicht des Westens waren die Interventionen notwendig, um die Erpressung der Minderheit zu beenden. Später wird die einseitige Unabhängigkeit als eine Entscheidung des Volkes gesehen, die respektiert werden sollte. Und genau das ist das Argument von Putin. Er spielt das gleiche Kartenspiel – nur umgekehrt. Die Russen auf der Krim seien erpresst worden, er musste intervenieren, und am Ende muss man den Willen respektieren, dass sie lieber Teil Russlands sein wollen. Die Argumente der beiden Seiten, so ähnlich wie sie sind, ignorieren oft eine Sache: sie haben kein Mandat von der UN. 

Wie geht man damit um? Wie kann der Westen argumentieren, sodass er keinen für Russland nützlichen Präzedenzfall im Kosovo provoziert? Auf der einen Seite steht die Logik der oben genannten Sicherheitsresolution, dass die UN auch die serbischen Forderungen respektieren muss. Auf der anderen Seite, würde dieser Zuspruch der oben aufgeführten russischen Argumentation in die Karte spielen. Dieser Abschnitt soll auf eines aufmerksam machen: Im allgemein, mit oder ohne Resolutionen, garantiert die UN die festen Grenzen eines Landes. Der Westen hat durch die Argumentation einer unterdrückten Minderheit sich klar für eine Änderung der serbischen Grenzen eingesetzt und letztlich militärisch interveniert. Aus russischer Sicht kann genau dieses Vorgehen als Präzedenzfall für das eigene Vorgehen genutzt werden.

Und damit stellt sich die Frage: Welche Seite der Medaille ist die richtige? Oder sind beide falsch, da kein Argument, einen Einsatz militärischer oder anderer Gewalt rechtfertigt?

„The last dance“

In den letzten Monaten sind die Konflikte in Kosovo zwischen Serben und Kosovo-Albaner gestiegen und die nationalistische Rhetorik verschärft sich. Nachdem der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti öffentlich gesagt hat, dass er nicht vorhat, die Gemeinde der serbischen Kommunen und das Brüssel Abkommen durchzusetzen, haben die Serben alle vereinbarten Institutionen des Brüsseler Abkommens verlassen. Die Serben berufen sich auf Resolution 1244 und fordern die Erlaubnis von UNMIK serbische Sicherheitskräfte, wie in gleicher Resolution vorgesehen, in Kosovo zu stationieren, um die Sicherheit der Kosovo-Serben zu gewährleisten. Schnell haben sie eine Antwort von der deutschen Außenministerin Bärbock bekommen. „Jeder Vorschlag, serbische Truppen in den Kosovo zu schicken, ist völlig inakzeptabel“, schrieb Bärbock auf Twitter. 

Deswegen ist die öffentliche Meinung auf dem Balkan, dass weitere Eskalationen nicht nötig sind und die Kosovo-Frage bald abgeschlossen werden muss. Dazu spricht auch der letzte französisch-deutsche Vorschlag, der in den Medien durchgesickert worden ist, dass aus der de facto, eine de jure Unabhängigkeit werden sollte. Oder wie die westlichen Politiker sagen, Serbien sollte die Realität akzeptieren.   Die Realität, über die alle reden, ist eine Medaille mit zwei Seiten. Die eine Seite ist die Resolution 1244, die ganz klar die Wahrung territorialer Unversehrtheit Serbiens garantiert, und auf der anderen Seite ist ein Land, das wie jedes andere Land normal funktioniert. 

Auf dem Balkan gibt es einen Spruch: Wenn zwei Seiten streiten und der Stärkere nachgibt, dann ist er vernünftig; wenn jedoch der Schwächere nachgibt, hat er verloren. Die serbische Öffentlichkeit hat das Gefühl, dass sie die Verlierer sind, denn alles, was den Serben in den bisherigen Verhandlungen versprochen wurde, wurde nicht gehalten. Weder die territoriale Integrität (Resolution 1244), noch die Gründung der Gemeinde der serbischen Kommunen in Kosovo (Brüsseler Abkommen).

In dem “last dance” zur Lösung der Kosovo-Frage erwartet Europa, dass Serbien die eine Seite der Medaille vergisst und die andere Seite akzeptiert. Das ist eine interessante Situation, die ein Machtungleichgewicht zwischen einigen Ländern deutlich macht: Auf der einen Seite, erwarten viele westliche Länder, dass sich Serbien an die Vorgaben der UN Resolution hält, gleichzeitig scheinen Punkte, die für Serbien von großer Relevanz sind, ignoriert zu werden (Wahrung territorialer Unversehrtheit, Gründung der serbischen Kommune). So wichtig eine gemeinsame Lösung für die Kosovo-Frage ist, müssen sich dennoch alle Länder an verabschiedete Resolutionen des Sicherheitsrates halten.

Die Kosovo-Frage zeigt, wie fragil das Rechtssystem der Vereinten Nationen ist und wie schnell auch die Glaubwürdigkeit dieser Institution verloren gehen kann. Die UN sind bei weitem nicht perfekt, aber in einem fairen UN-System müssen beide Seiten gleichwertig betrachtet und respektiert werden. Sonst stellt sich die Frage: Welchen Sinn ergeben solche Resolutionen? Dies ist ein generelles Problem, welches die UN in Zukunft lösen müssen.

von Filip Simonovski

Die Vereinten Nationen im Angesicht eines wachsenden Systemkonfliktes

Treffen des VN-Sicherheitsrats in New York. | AFP

Warum die Vereinten Nationen nicht um eine Reform herumkommen

Vor etwas mehr als einem Monat fanden sich im Hauptquartier der Vereinten Nationen (VN) Vertreter:innen der Mitgliedsstaaten zur jährlichen Vollversammlung zusammen. Die Treffen der Generalversammlung sind ein jährliches diplomatisches Schauspiel , welches auf internationaler Ebene seines gleichen sucht. Nirgendwo sonst kommen alle Länder an einem Ort zusammen, um gemeinsam über Lösungen globaler Probleme und Herausforderungen zu diskutieren.

In diesem Jahr wurde die Debatte der Generalversammlung dominiert von der Auseinandersetzung mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Viele große Reden wurden in der Generalversammlung gehalten, die ein Ende des russischen Angriffskrieges herbeisehnen. Immer mehr Länder bekennen im Rahmen der VN Farbe für den Respekt des Völkerrechts und die Grundprinzipien der VN, der Wahrung territorialer Unversehrtheit . Das ist wünschenswert, dennoch müssen die VN der Realität ins Auge schauen: eine große Rolle spielen sie bei der Beendigung des Krieges nicht. Natürlich kann nur Russland den Krieg beenden und nicht etwa Scheinverhandlungen, die russischen Vorstellungen folgen. Dennoch sollten die VN als globale Friedensorganisation in einer idealen Welt größeren Druck auf Russland ausüben. Dis gelingt jedoch nicht.

Ein wachsender Systemkonflikt und seine Auswirkungen auf den VN-Sicherheitsrat

Ohne Frage setzt die Generalversammlung mit ihrer Resolution ein deutliches Zeichen. Ob solchen Worten auch Taten folgen steht jedoch auf einem anderen Blatt. Der VN-Sicherheitsrat, das in sicherheitspolitischen Fragen wichtigste Organ der VN, kann bislang wenig Druck auf Russland auswirken. Dies liegt an seiner veralteten Struktur und Regeln, die in diesen Zeiten wie festgefahren wirkt. Solang Russland permanentes Mitglied im Sicherheitsrat ist und ein Vetorecht behält, kann Russland alle etwaigen Initiativen des Sicherheitsrates blockieren. Durch den Krieg stehen die westlichen NATO-Staaten so offen wie lange nicht mehr in einem politischen Konflikt mit Russland. Diese Erkenntnis und daraus resultierenden Auswirkungen scheinen sehr offensichtlich. Schaut man nicht nur auf Russland, gibt es noch einen weiteren Aspekt, der die zukünftige Häufung von Blockade-Effekten innerhalb des Sicherheitsrates wahrscheinlich werden lässt.

China steht in einem sich immer intensiver entwickelnden Systemkonflikt vor allem mit den Vereinigten Staaten gegenüber. Gleichzeitig ist in den letzten Jahren eine immer stärker werdende chinesisch-russische Kooperation sichtbar geworden. Die zu beobachtende politische (aber nicht zwangsläufig freundschaftliche) Nähe von China und Russland deutet nicht unbedingt auf eine vollständige Unterstützung Russlands hin. China enthielt sich bspw. bei der Abstimmung der VN-Resolution zur Verurteilung des Krieges vor einigen. Diese Art der Blockbildung ist jedoch ein Symptom eines sich international aufheizenden Systemkonflikts. Im Vergleich zum kalten Krieg handelt es sich dabei nicht um einen Konflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sondern um einen zwischen demokratischen und autoritären Systemen. Auch wenn China bei der Beurteilung des Angriffskrieges nicht offen an Russlands Seite steht, so verurteilt China diesen auch nicht. Mit Blick auf die chinesischen territorialen Gebietsansprüche über Taiwan ist dies auch nicht verwunderlich.

Was bedeuten diese Dynamiken nun für die zukünftige Arbeit der VN? Wie bereits angedeutet kann eine Konsequenz die eingeschränkte Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrates sein. Bereits im Kalten Krieg war die Arbeit des Sicherheitsrates geprägt von gegenseitigen Blockaden der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Das vor allem Russland durch sein imperialistisches Verhalten verstärkt zu diesem Mittel greifen wird ist nicht unwahrscheinlich. Ähnlich könnte es jedoch auch für China vermehrt opportun sein, sich durch die Nutzung des Vetorechts gegen die Positionen westlicher Staaten zu stellen. Dies liegt auf der Hand, berücksichtigt man den Anspruch Chinas dem eigenen wachsenden Vormachtsanspruch auf der internationalen Bühne gerecht zu werden und sich gegen die vermeintlich westlich dominierte Weltordnung zu stellen. Diese Dynamiken und Verhärtung der Fronten zwischen autoritären und demokratischen Staaten könnte somit Auswirkungen auf sicherheitspolitisch relevante Entscheidungen in Krisenregionen haben, sollten die Mitglieder des Sicherheitsrates (und damit sind nicht nur ausschließlich Russland und China gemeint) ihre Veto-Macht in Zukunft häufiger instrumentalisieren.

Umfassende Reformen: so nötig und gleichzeitig unwahrscheinlich wie nie?

Unter anderem vor dem Hintergrund dieser Veto-Problematik fordern bereits seit mehreren Jahren unterschiedliche Koalitionen von VN-Mitgliedsstaaten eine Reformierung der VN und vor allem des Sicherheitsrates. Dennoch richtet sich die Kritik am Sicherheitsrat nicht nur an die Machtstellung der permanenten Mitglieder, sondern auch an die generelle mangelnde Repräsentanz der aktuellen Weltordnung. Schließlich geht die Zusammenstellung und Ordnung des Sicherheitsrates auf die Nachkriegsordnung der 50er Jahre zurück. Viele Länder fühlen sich bereits seit vielen Jahren nicht ausreichend durch den Sicherheitsrat repräsentiert, der als wichtigstes Organ der VN kollektive Sicherheit garantieren sollte.

Die Reformvorschläge sind divers, auf einen gemeinsamen Reformansatz konnte man sich bislang jedoch noch nicht einigen. Auch Olaf Scholz forderte während der diesjährigen Generalversammlung erneut Reformen des Sicherheitsrates und forderte unter anderem einen permanenten Sitz im Rat für die Bundesrepublik Deutschland. Ob dieser Anspruch der Reformdebatte zuträglich ist, darüber lässt sich streiten. Eines ist jedoch klar: alle Ideen der Reformierung scheitern schnell an dem einfachen Problem, dass alle permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates einer Reform zustimmen müssen bzw. nicht von ihrem Vetorecht Gebrauch machen dürfen. Der Fakt, dass Präsident Biden im Rahmen der diesjährigen Generalversammlung sich offen gegenüber einer Reformierung äußerte und auch französische Gesandte sich für eine Reformierung aussprachen, kann neue Hoffnung machen. Dennoch scheint es ein Wunschdenken zu sein, dass Russland oder China aktuell einer umfassenden Reformierung zustimmen werden. Und auch wenn sich die Vereinigten Staaten und Frankreich einer Reformierung öffnen, so ist es doch nicht zu erwarten, dass diese Länder einen echten Macht- und Einflussverlust innerhalb des VN-Systems so einfach hinnehmen werden. Egal wie man es nimmt, die Situation ist festgefahren: Eine Reformierung scheint im Kontext der immer komplexer werdenden globalen Krisen so nötig wie nie, gleichzeitig scheint ihr Erfolg so unwahrscheinlich wie nie.

Nicht nur im Sicherheitsrat haben die geopolitischen Veränderungen Auswirkungen auf die Arbeit des VN-Systems. Chinas stetiger Einflussgewinn auf globaler Ebene spiegelt sich bspw. direkt in der Arbeit des VN-Menschenrechtsrates wider. Im August veröffentlichte der Menschenrechtsrat einen Bericht zu den massiven Menschenrechtsverletzungen in der chinesischen Provinz Xinjiang. Bereits seit mehreren Jahren werden dort die Uiguren, eine muslimische Minderheit, auf extreme Weise unterdrückt. Normalerweise wird ein solcher Bericht im Rahmen des Menschenrechtsrates diskutiert und daraufhin nächste Schritte besprochen, wie bspw. die Einsetzung eine umfassende Untersuchungskommission. Anfang Oktober wurde eine solche Diskussion im Rahmen der nächsten regulären Sitzung im März 2023 per Abstimmung verhindert . Wie konnte das geschehen? Die chinesische Regierung versteht es sehr gut ihren wirtschaftlichen wachsenden Einfluss in verschiedenen Teilen der Welt für nationale politische Interessen zu nutzen. Es gibt Berichte , dass China in solchen Situationen wie Anfang Oktober Druck auf wirtschaftliche Partnerländer ausübt, um ihre politischen Interessen durchzusetzen. Das ist ein Symptom eines wachsenden Einflussgewinnes Chinas im VN-System, um dieses für ihre Interessen zu nutzen. Letztendlich besteht die Gefahr, dass VN-Organisationen wie der Menschenrechtsrat durch solche Beeinflussung ihre Glaubwürdigkeit verlieren und nicht mehr zuverlässig arbeiten können. Umfangreiche Reformen sollten also ihren Fokus nicht nur auf die Arbeit des Sicherheitsrates, sondern auch auf die Umstrukturierung der VN im Allgemeinen, um der Manipulation von VN-Grundsätzen durch einflussreiche Staaten vorbeugen zu können.

In Zeiten von multiplen Krisen braucht es eine wehrhafte VN

Die VN befinden sich in der Phase multipler Krisen und Herausforderungen an einem Scheideweg. Auf der einen Seite kann es Mut machen, dass sich in der diesjährigen Generalversammlung eine sehr große Mehrheit der Nationen für eine Verteidigung des Völkerrechtes, für die Grundprinzipien der VN und für eine Verurteilung der russischen Annexionen ausgesprochen haben. Gleichzeitig müssen die VN-Mitglieder den großen Worten auch Taten folgen lassen. Vor allem als sicherheitspolitischer Akteur müssen sich die VN umstrukturieren, um in Zukunft eine einflussreichere Rolle bei der Bewältigung sicherheitspolitischer Herausforderungen spielen zu können. Im Rahmen des Sicherheitsrats steht sich das VN-System durch ihre eigenen Regeln selbst im Weg. Es benötigt einen umfangreichen institutionellen Umbau der Vereinten Nationen, um den zukünftigen Herausforderungen gerecht zu werden. Viele Länder haben das bereits erkannt; andere wollen es aufgrund nationaler Interessen noch nicht verstehen.

Es ist eine Chance, das Momentum einer so geeinten Generalversammlung in Bezug auf den russischen Angriffskrieg zu nutzen, um alte Grundsätze zu stärken und neue Regeln zu formen, unter denen alle Staaten leben wollen. Dabei geht es nicht um die Aufrechterhaltung der oft zitierten aber auch viel kritisierten alten „rules-based“ Ordnung, sondern um die Schaffung einer neuen Ordnung. Diese muss auf den Grundsätzen der VN basieren und von allen akzeptiert werden können. Dies heißt jedoch auch, dass sich diese Ordnung gegen die imperialistischen Ansprüche autoritärere Staaten zu wehren vermag. Dies ist kein einfaches Unterfangen, aber trotz der großen Probleme vor denen die VN stehen, ist sie immer noch die beste Organisation des globalen Austausches und kann Hoffnung für eine bessere globale Zusammenarbeit schaffen. Im Jahr 2015 hat dies durch die Schaffung der Sustainable Development Goals und die Verabschiedung des Paris Abkommens beeindruckend funktioniert. So schwierig es sein mag, ein solcher Zusammenhalt und Fortschrittsgedanke ist nun erneut von den VN gefordert.

von Constantin Treisch


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